20. Juli 2016

Die Re-Stigmatisierung psychisch Kranker

Es darf wohl als eine der großen Aufklärungsleistungen freiheitlicher Gesellschaften gelten, daß Menschen mit psychischen Störungen in den letzten Jahrzehnten aus der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Ächtung haben heraustreten können. Ein breit gefächertes, professionelles Behandlungsangebot steht Menschen zu Verfügung, die in anderen Gesellschaften bis heute ein randständiges Dasein fristen. Daß es im Gegenzug in den letzten Jahrzehnten manche Tendenz zu einer „Überpsychologisierung“ und -pathologisierung des Alltags gekommen ist, mag man als kritisierbare Nebenwirkung einer insgesamt positiven Entwicklung sehen.
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Unübersehbar dagegen ist das gegenwärtig in Mode kommende politisch-mediale Narrativ des „verrückten“ Einzeltäters, des Irren, so die immer öfter zu lesende antiquiert-abwertende Bezeichnung (wo ist hier eigentlich der Unterschied zu Begriffen wie  „Neger“, liebe Qualitätsjournalisten?), der für die jüngsten blutigen Terroranschläge, zuletzt in der Nähe von Würzburg, verantwortlich zeichne. „Psychische Störungen“ und nicht etwa islamistischer Fanatismus, sollen für die „Allahu Akbar“-Rufe des Täters, während er auf seine Opfer eingeschlagen hat, verantwortlich gewesen sein. Amok, eine ursprünglich genuin unpolitische Form des erweiterten Suizides, lautet das mediale Zauberwort der Stunde. 

Dabei lassen insbesondere diejenigen, die sonst peinlich genau auf „Differenzierung“ zur Vermeidung von „Pauschalisierungen“ dringen, ebenjene vermissen. Wenn es beispielsweise immer wieder heißt, daß die überwiegende Mehrzahl der Muslime friedlich sei, so wäre es zumindest ein Gebot der Ausgewogenheit, ebensolches für die überwiegende Mehrzahl der Depressiven oder Psychotiker zu konstatieren. Aber möglicherweise geht es ja eben darum: eine Re-Stigmatisierung einer gesellschaftlichen Gruppe billigend in Kauf zu nehmen, um Angehörige jener Religion frei von Kritik halten zu können, nachdem das Narrativ von den „Einzelfällen“ sich entlang empirischer Tatsachen inzwischen ebenso totgelaufen haben dürfte wie das von der mangelnden Willkommenskultur gegenüber diesem vordergründig bestens integrierten und versorgten Täter.

Auch der zweite Aspekt der gegenwärtig beliebten Erklärungs- und Deutungsmuster, nämlich die Behauptung von der schicksalhaften „Turboradikalisierung eines einsamen Wolfes“ könnte sich im gegenwärtigen Fall (wie auch im Falle von Nizza, wo inzwischen nach Unterstützern gefahndet wird) als unzutreffend erweisen. Daß der Attentäter von Würzburg ein Bekennervideo bis nach der Tat beim IS hat platzieren können, belegt deutlich, daß hier Kontakte bestanden haben. Die Verschleierung seiner Herkunft aus Pakistan, einem Land, bei dem die Asyl-Anerkennungsquoute mit 75 Prozent gerade einmal 10 Prozent niedriger ist als im Fall von Afghanistan, aus dem er vorgeblich gekommen war, spricht nicht unbedingt für Unterschiede in den Asylchancen als Grund für die Verschleierung seiner Herkunft, insbesondere wenn man die Entdeckungswahrscheinlichkeit dieser Lüge aufgrund sprachlicher Widersprüche (wie sie den Behörden leider zu spät anhand des Bekennervideos aufgefallen sind) berücksichtigt.

Aber so ist das wohl mit den Narrativen: sie kommen und gehen. Was bleibt, ist der Terror.


Andreas Döding

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