8. März 2017

Yildirim, Çavuşoğlu, Erdoğan und der Wahlkampf in Deutschland. Ein Vorschlag zur Güte

Nun hat nach einigem leidigen Hin und Her also der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu seinen mit Spannung erwarteten Wahlkampfauftritt auf deutschem Boden absolviert - nach vergleichbaren (oder zumindest laut angekündigten) Whistle stops seiner Kabinettskollegen Binali Yildirim (Ministerpräsident), Bekir Bozdağ (Justizminister), Nihat Zeybecki (Wirtschaftsminister) und einer für die nächsten Wochen in Aussicht gestellten Visite des Präsidenten der Türkischen Republik Recep Tayyip Erdoğan. Daß dies im Zuge einer Werbekampagne bei den hier lebenden Staatsbürgern der Türkei zur Volksabstimmung am 16. April über die Änderung der laizistischen Verfassung erfolgt, mit dem die demokratische Verfaßtheit dieses Staates durch etwas ersetzt werden soll, das auch wohlwollende Beobachter als "Präsidialdiktatur" bezeichnen, mag man, als wohlwollender Schonlängerhierlebender, mit einem Lächeln als "innere Angelegenheit der Türkei" zur Kenntnis nehmen. Auch daß es sich - eigentlich - für Politiker anderer Staaten nicht ziemt, im Ausland Wahlkampf zu betreiben - egal ob nun in demokratisch blütenweißen Belangen oder zur Absegnung einer brutalen Autokratie: geschenkt. Weder Herr Trump noch Frau May, nicht Herr Wilders oder Mme. Le Pen haben sich hierzulande als Wahlkämpfer die Ehre gegeben, aber, so sollte man bedenken: sie verfügen in diesem Land auch nicht über eine Basis von Millionen potentieller Wähler, die es zu mobilisieren gilt. Von türkischen Politikern sind wir in Deutschland seit geraumer Zeit dagegen solche Auftritte gewohnt - und schließlich kennt sogar die Jurisprudenz das Konzept des Gewohnheitsrechts, nach dem Verstöße gegen den strikten Buchstaben oder den Geist der Gesetze durch fortdauernde Nichtsanktionierung zu ihrer stillschweigenden Suspendierung führen. Sicher, der umgekehrte Fall ist schwer vorstellbar: daß also Sigmar Gabriel, Heiko Maas und Brigitte Zypries in Antalya, Ankara, Kars oder Istanbul vor einem endlosen Meer schwarzrotgoldener Fahnen für die Wahl Herrn Schulzens oder Frau Merkels ein vergleichbares Schaulaufen veranstalten könnten. (Der kleine Zyniker gibt an dieser Stelle zu bedenken, daß solche Staatsinsignien im Fall von Frau M. geeignet sein könnten, Unwillen auszulösen - weshalb die Gewohnheit der türkischen Regierung, sie bei ihren zahlreichen Besuchen am Goldenen Horn vor riesigen türkischen Flaggen zu plazieren, nicht etwa einen Bruch der diplomatischen Etikette darstellt, sondern von Rücksichtnahme zeugt.)


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Nun mag in der Türkei, was Demokratie und Menschenrechte betrifft, in der Tat einiges im Argen liegen, zumal seit der "Nacht der Langen Messer", Osman-style, vom vorigen Juli. In einem Beitrag für die "Deutsche Welle" vom 14. Februar 2017 findet sich die bisherige, tja, "Schadenbilanz" aufgelistet:

Die Zahlen steigen weiter - und nehmen allmählich Ausmaße an, die nicht mehr zu beziffern sind. Menschenrechtsorganisation wie Turkey Purge, PEN International, Committee to Protect Journalists (CPJ) und das Stockholmer Zentrum für Frieden (SCF) sprechen von 128.398 Türken, die seit dem missglückten Putsch am 15. Juli 2016 ihre Arbeit verloren haben. 91.658 wurden bereits festgenommen.
Mehr als 100.000 Beamte und Sicherheitsleute entlassen; über 100.000 festgenommen oder verhaftet; 2.099 Schulen oder Universitäten geschlossen; 7.316 Akademiker entlassen; 3.843 Richter oder Staatsanwälte entlassen; 149 Zeitungen/Medien geschlossen; 162 Journalisten verhaftet.
2015 rangierte die Türkei, was die Verletzungen der Menschenrechte angeht, an vierter Stelle. 2016 stieg sie auf Platz zwei auf.
Angesichts der völligen Abwesenheit von Handlungsmöglichkeiten oder - willen auf Seiten unserer Regierung (oder sollte ich statt "unserer" vielleicht lieber "der deutschen" schreiben?), angesichts der kompletten Lähmung deutscher Behörden, im eigenen Inland ihren hoheitlichen Aufgaben auch nur ansatzweise nachzukommen, wäre es so wohlfeil wie unnötig kräftezehrend, hier nun auf Maßstäben zu bestehen, wie sie die Richtschnur des Ideals vorgibt. Zum einen wird uns die Vielfalt, die Diversität, unablässig als raison d'être und Fernziel multikultureller Pluralitäts-Praxis gepredigt; zum anderen scheint man auch hier wenig geneigt, diesen Idealen sensu strictu Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und das gesinnungsethische Ideal, aus dem solche Forderungen erwachsen, duldet naturgemäß keine grauen Zwischenstufen (um ein Bepsiel zu nennen: wir haben es zwar mit Diktatoren zu tun - etwa von Herrn Assad bis zu den Herrschern Arabiens und Ägyptens - aber die Lebenswirklichkeit zwingt uns den Umgang mit ihnen auf.)

Was bleibt also? Wie immer: der Stil. Und sollte es tatsächlich so sein, daß die Türkei im Kräfteverhältnis zu Almanya die größere Hebelwirkung auszuüben vermag (aus welchen Gründen auch immer) empfiehlt sich dies in umso größerem Maß. Und hier komme ich zum Thema dieses Beitrags: es ist mißlich, daß Herr Çavuşoğlu der Aufruf an seine Völker von der Veranda der Hamburger Botschaftsresidenz aus richten mußte; weil es sich bei dieser Liegenschaft um ein extraterritoriales Gebiet handelt - so wie ein Flugzeug oder ein Schiff. Daß ihm in der zunächst dafür vorgesehenen Halle der Auftritt aus schnöden Brandschutzgründen verwehrt wurde. Da dies vermutlich im Gegensatz zu den in der Türkei üblichen Gepflogenheiten stehen dürfte, darf dies als ein übler Fall von Kulturimperialismus gewertet werden. Ja, schlimmer noch: seit in den 90er Jahren von den türkischen Behörden zumindest auf dem Papier ein leichtes Nachlassen der Repressionen gegen die kurdische Minderheit im Südosten des Landes zugestanden worden ist, gab es zahllose Berichte, daß die Eröffnung kurdischer Schulen oder Kultureinrichtungen von den Behörden unterbunden worden ist; indem in letzter Minute angebliche bauliche Mängel - und hier zumeist eben das Fehlen jeglichen Brandschutzes - geltend gemacht wurden. 

Es verstimmt auch, daß das traditionell herzliche deutsch-türkische Verhältnis durch solche Ungeschickheit getrübt zu werden droht. Anders als in sonstigen bilateralen Beziehungen, wo ehrliche Äußerungen oft ehrpussliger Gesichtswahrung zum Opfer fallen, zeichnet sich dies dadurch aus, daß ehrliche Worte ohne Kränkung als die wertvollen Ratschläge goutiert werden, als die sie unter guten Freunden gemeint sind. In den letzten Jahren war da von türkischen Funktionären u.a. folgendes zu hören: 
- Faruk Sen, 2008: „Die Türken sind die neuen Juden Europas."
- Hakan Kivanc, türkischer Generalkonsul, 2009: „Wenn man den Deutschen die Pulsader aufschneidet, fließt braunes Blut." „Die Deutschen würden am liebsten den Türken ein „T" tätowieren, wie es die Nazis mit den Juden getan haben."
- Ismail Karabulut, 2016: „Die Deutschen sind eine Köterrasse." -  „Diese Schlampe mit dem Namen Deutschland hat uns den Krieg erklärt - und wir schweigen immer noch."
- Mevlüt Cavusoglu. 2017: „Deutschland muss lernen, sich zu benehmen!"

Mißlich ist auch, daß unsere Obrigkeit beim Versuch, den Anschein zu wahren, sich als Amateure und Laiendarsteller in Sachen Hoheitsangelegenheiten gerieren müssen.

Bei Anne Will sagte Justizminister Heiko Maas, er habe aus der Presse erfahren, dass der türkische Außenminister Begier Bozdag in Gaggenau reden wollte und habe ihn um ein Gespräch gebeten. Was der erst nicht wollte. Dafür sei er sogar nach Gaggenau gefahren. Das muss man sich mal vorstellen: Türkische Regierungsmitglieder reisen unangemeldet durch Deutschland – das sollte Maas mal in der Türkei versuchen – , und der Justizminister erfährt es aus der Presse, bittet um ein Gespräch und will dem Gast hinterher fahren. (Roland Tichy auf "Tichys Einblick" vom 05.03.2017)

Auch der Gesamteindruck dieser beiderseitigen Peinlichkeit kann nicht wirklich mit der Bestnote bewertet werden. Noch einmal Roland Tichy:

Erdogan ist Organ eines fremden Staates wie seine Minister. Er nimmt eine hoheitliche Handlung vor, wenn er in Deutschland spricht. Den Privatmann oder Parteipolitiker Erdoğan gibt es nicht. Er ist Regierungschef. Als solcher Wahlkampf in Deutschland zu führen, geht nicht, ganz egal, worüber er spricht. Wenn Erdoğan dröhnt, er komme nach Deutschland, wann ER wolle und notfalls organisiere er einen Aufstand – eine Ungeheuerlichkeit. Es ist nicht mehr als die Behauptung, er könne jederzeit dem deutschen Staat trotzdem. Die bittere Erkenntnis: Vermutlich ist es so.
...
So hat Erdoğan seinen Herrschaftsbereich auf Deutschland ausgeweitet. Das Land, das unter Merkel seine Grenzen einfach aufgegeben hat, erlebt jetzt, dass es ein Gastland für Erdoğans autonome Provinzen ist. ...  Merkel und Gabriel schauen betroffen weg und protestieren ein wenig und das an der falschen Stelle, machen sich nur angreifbar und demonstrieren nichts als ihre Selbstaufgabe. Noch nie hat sich ein Land so sehr selbst aufgegeben.

Peinlich, wie gesagt. Wie ein Minister in Turnschuhen. Daß ein Land wild entschlossen scheint, sich selbst, seine Staatlichkeit, seine Zukunft aufzugeben, ist angesichts zahlloser untergeganger Reiche, Imperien, Latifundien, Diözesen, Exklaven oder Dynastien sub specie aeternitatis aus Siriusferne betrachtet doch eher als Betriebsunfall zu werten; die Staffelübergabe an Eroberer, Konquistadoren, Barbaren, Usurpatoren oder Revolutionäre bildet - ganz im Sinne etwa eines Oswald Spengler - dann die tragische, blutige Folie zur Heiterkeit des vorhergehenden Erfolges. Der Irrtum, mit dem Zerfall des Kasernensozialismus sei dieser Gang der Weltgeschichte ausgeschaltet worden und man sei endgültig im fröhlichen Arkadien eines nachgeschichtlichen Posthistoire angelangt, erweist sich im Rückblick als die letzte Illusion, die finale Seifenblase: als das Ende einer Phase, nicht ihr Beginn. Nur sollte es ratsam sein, den Schlußakt nicht durch vermeidbare Torheiten und Lächerlichkeiten in den Augen der Nachwelt noch unnütz in den Staub zu treten.

Deshalb sei an dieser Stelle ein bescheidener Vorschlag unterbreitet, wie man sowohl dem in Agonie dahinsiechenden Lebensbereich der Schonlängerhiergewesenen wie auch deren administrativen Erben künftig diese Scharaden erspart. Zumal die letzteren auf absehbare Zeit damit beschäftigt sein dürften, konkurrierende Erbansprüche kurz zu halten und ihr Erbteil nicht komplett durch Anarchie und Chaos in eine irreparable Schutthalde zu verwandeln. Kennern der klassischen Mythologie bietet sich als ein möglicher  modus operandi hier vielleicht die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka an.

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Da trifft es sich ausgezeichnet, daß uns die türkische Regierung von einigen Wochen, genauer, am 4. Februar, davon in Kenntnis gesetzt hat, daß sie die Entdeckung der Antarktis für sich in Anspruch nimmt - verbunden darüber hinaus mit einem Anspruch auf die von ihr (beziehungsweise ihren Rechtsvorgängern) vor Jahrhunderten ausgekundschafteten Gebiete. Wie die österreichische Kronenzeitung berichtet:

Der türkische Wissenschaftsminister Faruk Özlü hat angekündigt, dass die Türkei Ansprüche auf Teile der Antarktis erheben will. Denn ein osmanischer Seefahrer habe die Antarktis entdeckt, begründete der Politiker seinen Vorstoß. Deswegen plane die Türkei zunächst einmal den Aufbau eines Forschungszentrums in der Antarktis. ("Von Osmanen entdeckt: Türkei erhebt nun Ansprüche auf die Antarktis", 05.02.2017)

Genaueres erfährt man aus dem dieser und vergleichbaren Meldungen zugrunde liegenden Bericht der Zeitung "Yeniçağ Gazetesi":

Antarktika'ya bilim merkezi kurulması çalışmasının bakanlık olarak kendilerine verildiğini kaydeden Bakan Özlü, şöyle konuştu:
“Antarktika'ya bilim merkezi kuruyoruz.  Barış için bilimi öne çıkaracağız.  Bunun çalışması bizim bakanlığa verildi.  Bu çalışmaya göre Antarktika'da mevsim buradakinin tam tersi biliyorsunuz.  15 Kasım-15 Mart arası orada yaz.  Bu dönemde oraya bir heyet göndereceğiz.  İstanbul Teknik Üniversitesi'den hocalarımız, diğer üniversitelerden hocalarımız var.  Türkiye'nin Antarktika'da bilim üssü olacak.  Başka ülkeler de orada çalışıyorlar.  [b]Piri Reis'in haritasında Antarktika bölgesinin olduğuna dair işaretler var[/b].  Bir harita yaptırıyoruz.  Antarktika'da hak iddia eden ülkelerin belgelerinin sunulduğu müzede sergileyeceğiz.  Biz de orada hak iddia edeceğiz.  Piri Reis haritasında böyle bir yer var diye işaret ediyor.”
 (04.02.2017)
In Bezug auf den Auftrag, ein Forschungszentrum in der Antarktis zu errichten, sagte Minister Özlü: "Wir werden eine Forschungsstation in der Antarktis einrichten und unser Wissen für friedliche Zwecke einsetzen. Sie wissen, daß die Jahreszeiten dort genau umgekehrt von unseren Verhältnissen  stattfinden: der Sommer liegt zwischen dem 15. November und dem 15. März. In dieser Zeit werden wir eine Expedition dahin schicken. Diese wird nicht von der Technischen Hochschule in Istanbul betreut, sondern von anderen Institutioonen. Das wird die Basis für die türkische Wissenschaft in der Antarktis bilden. Auch andere Länder arbeiten dort. Es spricht einiges dafür, daß die Karte des Piri Reis antarktische Gebiete zeigt. Wir werden eine Ausstellung einrichten, die die Dokumente präsentiert, in der diese Gebiete vorkommen. Wir werden dieses Gebiet kartographieren. Wir erheben Anspruch darauf. Piri Reis bildet das auf seiner Karte ab." (Ü.: U.E.)

Bei der hier genannten Karte des osmanischen Admirals Piri Reis handelt es sich um das erhaltene mittlere Drittel einer Weltkarte, im Format 30 mal 90 cm, das im Jahr 1929 bei der Aufnahme der Bestände des Topkapi-Palasts, des Topkapı Sarayı, bei seinem Umbau vom Privat-Serail der osmanischen Sultane in ein Nationalmuseum entdeckt worden ist. Erhalten ist der mittlere Abschnitt, der den Atlantik mit zahlreichen Inseln, die Küsten Westafrikas, Nord- und Südamerikas, die Karibik und die Küsten Europas zeigt und gut 30 erläuternde Legenden in alttürkischer Sprache (in der damals üblichen arabischen Schrift) trägt. Daraus geht hervor, daß Piri Reis diese Karte im Jahr 1513 aufgrund von "20 Portolankarten" zusammengestellt hat, die er bei der Eroberung portugiesischer Forts auf der arabischen Halbinsel, entlang dem Seeweg nach Indien, als Beute erobert hatte. Das nautische Wissen jener Zeit, sowohl des Spanier wie der Portugiesen, wurde von beiden expandierenden Seemächten als Staatsgeheimnis behandelt. Aus den Legenden ergibt sich, daß es sich bei der Darstellung der Inseln der Karibik um die älteste überlieferte Karte der Enteckungen von "Qülünbü" (Kolumbus) handelt; bei den Legenden entlang der Küsten des heutigen Brasiliens und Argentiniens werden ausschließlich portugiesische Seefahrer erwähnt. Und südlich dieses Bereichs verläuft auf dieser Karte nun die Küste Südamerikas nicht bis zum Kap Hoorn und den Inseln Feuerlands, um dann wieder nach Norden abzubiegen, sondern erstreckt sich, tief im Süden, weit in östliche Richtung. Skeptische Beobachter haben darin ein Echo der Auffassungen des griechischen Geographen Claudius Ptolemäus und seiner Weltbeschreibung "Geographike hyphegesis" aus dem Jahr 150 n.Chr. gesehen. Ptolemäus nahm aus theoretischen Gründen die Existenz eines ausgedehnten, unbekannten Kontinents auf der Südhalbkugel der Erde an, der terra australis incognita (um bei der kugelförmigen, sich um die eigene Achse drehenden Erdkugel, von der er ausging, keine Unwucht entstehen zu lassen) - und dieser hypothetische Erdteil findet sich seit der editio princeps der "Geographie" von 1478 auf zahllosen Karten und Atlanten der nächsten 100 Jahre - zum Teil mit höchst phantasievollen Flußläufen und  vorgelagerten Inseln ausgestattet. Ein Küstenverlauf, der samt Inseln und Flußläufen fast exakt identisch mit der Priri-Reis-Karte ist, findet sich auf der portugiesischen Karte des Lopo Homem von 1519:




Aus den auf der Piri-Reis-Karte in diesem Teil der Welt plazierten Legenden geht hervor, daß damit wohl eher nicht antarktische Liegenschaften gemeint sein dürften: "Und in diesem Teil des Landes gibt es Tiere mit weißem Fell und außerdem Ochsen mit sechs Hörnern" sowie "Dieses Land ist öde. Alles ist wüst und verfallen und es heißt, daß sich dort große Schlangen finden. Aus diesem Grund sind die portugiesischen Ungläubigen nicht an dieser Küste gelandet; diese Küsten sind zudem sehr heiß." Diese Umstände haben freilich spekulationswillige spätere Zeitgenossen nicht davon abgehalten, in dem dort eingetragenen Küstenverlauf eine Wiedergabe der Südpolgebiete zu sehen - zuerst Ende der Dreißiger Jahre die in Wien studierende Geographin Ayse Afetinan und 1956 den Amerikaner Charles R. Hapgood, der  - hier im Vorgriff auf spätere Kompilatoren, die sich bei seinen Arbeiten bedient haben - mutmaßte, es könnte sich hier um jahrtausendealtes Wissen einer spurlos verschwundenen prähistorischen Hochkultur handeln. (Der Name "Atlantis" kommt bei Hapgood nicht vor, aber wer diese Geschichte dieser Spekalutionen seit dem 17. Jahrhundert kennt, vernimmt dieses Echo sofort.) Louis Pauwels und Jacques Bergier haben diese Story 1960 für ihre Kompilation wüsten pseudowissenschaftlichen Seemansgarns "Le matin des magiciens" von Hapgood übernommen, und von dort hat sie sich in Erich von Dänikens "Erinnerungen an die Zukunft" von 1968 vorgearbeitet. (Ein Klick auf die Abbildung vergrößert die Karte; bei der ersten Legende handelt es sich um die Schrift in der Mitte des unteren Bildrands; unterhalb des weißgesegelten untersten Einmasters; Nr. 2 steht am rechten unteren Bildrand.)



Wie dem auch sei: bei dem von Osgood und Co. ausgemachten Landstrich kommt, wenn man denn ein mögliches Pendant in der praktisch-faktischen Welt sucht, nur ein Kandidat in Frage: ein Abschnitt des Königin-Maud-Lands, eines weiten Streifens der Ostantarktis, südlich des westlichen Atlantiks. Das Dronning-Maud-Land (so die Version Norwegens) bzw. des Queen-Maud-Lands wird seit Ende der 1940er Jahre von Norwegen beansprucht; dieser Anspruch wird aber von den Vereinten Nationen nicht anerkannt. Unabhängig von solchem Territorialanspruch bleibt die Einrichtung von Forschungsstationen, weshalb Norwegen dort auch drei Stationen betriebt. Interessant ist nun, daß der vorige Anspruch auf Landnahme, seit Ende der 1930er Jahre, von den Deutschen angemeldet wurde - der lange, komplett unwirtliche Küstenstreifen war Ziel der Südpolexpedition von 1938-1939 unter Alfred Ritscher - und zwar unter dem Gebietsnamen "Neuschwabenland". Und "Neuschwabenland" ist in Kreisen, die nostalgische Verklärung der Diktatur des Dritten Reiches mit einem Fiable für die speziell deutschen Ausprägungen der Pseudowissenschaft in Deutschland zwischen 1900 und 1950 verkoppeln, natürlich ein Name mit Klang und Resonanz. Nach den Spekulationen aus diesem Bereich - wobei sich, das sei zugegeben, oft nicht ausmachen läßt, wieviel die Verfasser solcher Schriften nun für genuin halten, ob es sich dabei um Parodien auf solche Themen handelt, oder hier ein Autor zynisch die Leichtgläubigkeit seiner Klientel bedient. Das ist allgemein ein Problem mit jedwedem "esoterischen" Material - von jedem Horoskop angefangen bis zu jeder Sichtung einer Fliegenden Untertasse. Oder, um beim Thema zu bleiben, einer "Reichsflugscheibe" - diente "Neuschwabenland" als letztes Refugium von Militärs des Dritten Reichs, ausgestattet mit einer im geheimen entwickelten Supertechnik (etwa eben jenen "Reichsflugscheiben"), eine letzte, klandestine Bastion im ewigen Eis. Vage Berichte über eisfreie Täler aus den tatsächlichen Expeditionen von 1939 und 1948 haben diesen Phantasien weiteren Auftrieb gegeben. Die Tatsache, daß die USA 1958 über Südatlantik drei Atombomben in Höhen von 170 bis 700 Kilometern gezündet haben, hat in diesem Konnex zur Version geführt, der Versuch, "künstliche Ionen-Strahlungsgürtel" zu erzeugen, um die Steuerelektronik anfliegender, in diesem Fall russischer Interkontinentalraketen lahmzulegen, sei nur eine Deckversion für den Versuch von amerikanischer Seite gewesen, mit Atombomben diese letzte Bastion zu erobern. (Im Film "Iron Sky" von 2012 findet sich das gesamte Arsenal dieses Phantasmas, nur daß in diesem Fall die Nazis statt zum Südpol auf den gemütlicheren Mond geflohen sind.)

Und auf dem Eis des Queen-Maud-Lands befindet sich der gegenwärtige deutsche Stützpunkt auf den ewigen Eis des Südkontinents: die Station Neumeyer III (bei mit ihren beiden Vorlaufern seit 1981 eine beständige Präsenz deutscher Forscher auf dem 5. Kontinent ermöglicht hat; hier kann man das lokale Wetter per Webcam verfolgen), Und aus all diesen, zugegeben leicht disparaten Elementen ergibt sich hier für die unverbrüchliche deutsch-türkische Freundschaft eine einmalige Chance: der deutsche Staat verfügt hier über Liegenschaften, die er seinen türkischen Staatsgästen für Wahlkampf in beliebigem Umfang zur Verfügung stellen kann (ohne den für Staatsangelegenheiten peinlichen Weg - "In meiner Badewanne in ich Kapitän" -  über private Anmietungen oder gar fremde Botschaften nehmen zu müssen); der Mangel an Grenzschutz läßt eine Behinderung der Gäste von vorneherein ausschließen; das Gebiet ist vielfach beansprucht - von Germanen, Wikingern und jetzt auch Osmanen, ohne daß irgendjemandem bislang Schaden daraus entstanden wäre (es gibt also gesundheitsförderliche Formen des Nationalismus); Herrn E. könnte man in diesem Fall mit seinen NS-Bezügen beipflichten, die in den letzten Tagen so unschöne Wirbel verursacht haben; türkische Bedürfnisse nach Gebietsnahme könnten dem Rest der Welt, endlich einmal, Grund zur entspannten Heiterkeit sein; und falls der schwungvolle, temperamentgeladene Stil türkischer Wahlkämpfe zu viel an thermischer Energie freizusetzen drohte, könnte etwa eine Verlagerung in Zelte außerhalb der Station für eine wirkungsvolle Regulierung sorgen. Zumal ab dem 21. März dort der Winter beginnt (im Moment, in den ich dies schreibe, beträgt die Außentemperatur dort angenehme -19°C). Der Einwand, durch soviel temperamentvolle Glut könnte der Eispanzer der Ostantarktis zum Abschmelzen gebracht werden und der Meeresspiegel als Resultat davon weltweit um etliche Meter ansteigen, ist zwar stichhaltig, aber im Dienst der ewigen Völkerfreundschaft sollten solche kleinlichen Bedenken hintan stehen.

Anzumerken bleibt noch, daß bei der Frage des Transports auf praktische Erfahrungen zurückgegriffen werden kann. In der englischen Ausgabe der Zeitung "Hürriyet" von 9. März 2016 findet sich diese Meldung:

Turkish scientists head for maiden Antarctica mission
A crew of Turkish academics and researchers set off on a journey to Antarctica on March 29, for the country’s first scientific mission on the continent.
The 14-person team, which has two female members and includes academics from Istanbul Technical University (İTÜ), Istanbul University, Erciyes University, Çanakkale Onsekiz Mart University, Marmara University, Kocaeli University, Çukurova University and the Scientific and Technological Research Council of Turkey (TÜBİTAK), will conduct research in areas such as climate change and marine pollution for three weeks.
During the scientific journey, the team of doctors, botanists, survey and geology engineers and marine science experts will conduct research on a 75-square-kilometer area of Antarctica. The team will be hosted in Ukraine’s scientific research base and research climate change, glaciers, unfamiliar species, pollution, nautical biodiversity, preservation areas, sea mammals and botany.

 Auf ein enthusiasmiertes Publikum können türkische Politiker in jedem Fall zählen. Auch ohne heimische Fans kann man sich sicher sein, daß ihnen von den Schonlängerdortanwesenden ein begeisterter Empfang zuteil werden wird, wie die folgende Dokumentation beweist. So dürfte auch türkischen Politikern ein Wahlkampf zum nachgerade hedonistischen Exzess ausschlagen.






  
(Abb. der Piri-Reis-Karte: Wikimedia)



















Ulrich Elkmann

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