14. März 2018

Stephen Hawking, 8. Januar 1942 - 14. März 2018

In der vergangenen Nacht ist der wohl, nein: der mit Sicherheit bekannteste Physiker unserer Zeit, Stephen Hawking, zwei Monate nach seinem sechsundsiebzigsten Geburtstag gestorben. Über seine Verdienste kann man allerorten in schemenhafter Andeutung in den Nachrufen der Medien ins Bild gesetzt werden, ohne über seine Theorien und Verdienste eine tiefgreifendere Kenntnis zu erlagen. Um dazu zu gelangen, sollte man schon einige Grundkenntnisse von den Erkenntnissen, die die moderne Kosmologie, die Lehre vom Aufbau des Universums - und der grundlegenden Natur von Raum und Zeit, denen alles, was sich darin befindet, von jedem subatomaren Quark in unserer Kaffeetasse bis zur fernsten Galaxie, unterliegt -  in den letzten hundert Jahren in Erfahrung gebracht hat - mitbringen oder gewillt sein, sie zur Kenntnis zu nehmen. Das ist, das entsprechende Interesse vorausgesetzt, eine durchaus fesselnde und faszinierende Aufgabe, und sie ist auch durchaus für einen Laien, dem zu Beginn einer solchen Odysse der Anblick jeder mathematischen Formel Migräne auslöst, zu bewerkstelligen. Nur handelt es sich hier um eine umfangreiche und komplexe Materie (Kosmologen wissen, daß sich hinter dem Wort "Materie" bereits ein Abgrund auftut: baryonische? Kalte Dunkle Materie? "Fehlende Materie", die "missing mass" kosmologischer Modelle, die für das Universum einen finalen Kollaps postulieren?), und es reicht nicht, sich allein auf Hawkings Postulate zu kaprizieren, womöglich gar noch in der verkürzten Form, die ein zweiminütiger Fernsehbeitrag vermitteln könnte. Ohne eine tour d'horizon dieses gesamten Theoriegebäudes, von den Einstein'schen Relativitätstheorien, der Quantentheorie sowohl in ihrer "klassischen" Kopenhagener Form über die Konkurrenzmodelle, einschließlich der Everett'schen "Viele-Welten-Hypothese" bis hin zu den seit 30 Jahren unentscheidbaren Stringtheorien sensu Edward Witten und Konsorten bleibt das für den Nichteingeweihten ohne Kontext und Einordnungsmöglichkeit. Es ist, das sei gesagt, nicht schwer, sich hier eine erste Orientierung zu verschaffen: nicht schwerer, als sich in die Differenzialrechnung zu knien oder eine etwa Schachpartie "lesen" zu können. Aber es braucht Geduld und ein genuines Interesse.

Hawking war, das sollte man im Hinterkopf behalten, ein reiner Theoretiker; seine Modelle gingen stets von den mathematischen Beschreibungen aus, wie sie etwa für die "Singularitäten" von John Archibald Wheeler postuliert wurden (uns, die wir in diesen arkanen Höhe alle Nachgeborene sind, seit Anfang der 1970er Jahre als "Schwarze Löcher" bekannt), nie von Beobachtungsdaten. Die Kombination der Grundannahme eben einer solchen, auf rein theoretischer Grundlage postulierten "Singularität" mit den Postulaten der Quantenphysik führte ihn, Anfang der 1970er Jahre, zu der wohl einzigen revolutionären Hypothese, die im Gefüge kosmologischer Weltmodelle Bestand haben wird: der Erkenntnis, daß Schwarze Löcher keinen Ewigkeitsbestand haben. Die Natur einer solchen Singularität ist es, daß in ihr die Materie kollabiert, bis an ihre ultimatives Limit (aus welchen Gründen auch immer; und der einzige physikalische Mechanismus ist die eigene Schwerkraft). Sobald nun auf der Oberfläche eines solchen in sich kollabierenden Körpers die Fluchtgeschwindigkeit - also die Geschwindigkeit, die jede Materie oder Strahlung (mithin auch jede Information) braucht, um zu entkommen, die Lichtgeschwindigkeit überschreitet, kann nach der Erkenntnis der Relativitätstheorie nichts mehr: kein Partikel, keine Strahlung, keine Information aus diesem Bereich mehr entweichen. Hawking hat 1973 und 1974 gezeigt, daß diese Annahme unvollständig ist: gemäß des Planck'schen Unschärfepostulats, einem zentralen Bestandteil der Quantentheorie, nach dem der Ort eines Teilchen nur von einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bestimmt ist, kann es Teilchen, Lichtquanten und Information in minimaler, aber statistisch berechenbarer Qualität gelingen, sich außerhalb dieses "Ereignishorizonts" wiederzufinden, und, in ebensolcher Weise (da der Impuls, den ein solches Teilchen hat, nicht von seinem Ort abhängt) aus diesem Bereich zu entkommen. Die Folge ist, daß Schwarze Löcher, entgegen den Modellen der Klassischen Physik, unendlich langsam, aber sicher, Strahlung an ihre Umgebung abgeben oder, salopp ausgedrückt: verdampfen - zuerst langsam und anschließend in einer sich exponentiell steigernden Emissionskaskade, um schließlich in einem Gammastrahlenblitz zu verglühen. (Um einen ersten Vergleich zu geben: der einzige Mechanismus, den wir kennen, der ein Schwarzes Loch hinterläßt, ist der Kollaps der Zentralbereiche eines roten Riesensterns - von mehr als 8 Sonnenmassen - am Ende seiner stellaren Entwicklung. Als Resultat bliebt hier ein Kollapsar von der Masse unserer Sonne zurück. Die "Verdunstungszeit" eines solchen Objekts kann auf rund 10 hoch 50 Jahre berechnet werden. Das Alter des Universums beträgt nach heutigem Wissen 13,7 Milliarden Jahre. Um das genannte Alter zu kommen, muß also eine Zeit verstreichen, die 10 hoch 36 mal so groß ist wie das gesamte Alter unseres Universums: oder, anschaulicher ausgedrückt: 1.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 mal so viel - oder gut 14.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Jahre insgesamt.) (In den späten siebziger Jahren hegten manche Kosmologen die Hoffnung, es könnten beim Urknall, aufgrund der unendlich hohen - metaphorisch "unendlich" - Temperaturen und Drücke "Quanten-Schwarze-Löcher" entstanden sein, von dem Durchmesser eines Atomkerns: gäbe es sie, sollten sie, gemäß den Hawkings'schen Postulaten, in unserer Zeit final verdunsten und eine entsprechende Gammastrahlenbotschaft hinterlassen.) Man beachte, daß diese Modelle völlig unabhängig davon sind, ob in der "freien Wildbahn" des Universums Schwarze Löcher auch vorkommen, egal ob nun mit Sonnenmasse oder nicht. (Die Existenz schwarzer Löcher von Sonnenmasse bis hin zu den in Wortsinn unvorstellbaren Monstren im Zentrum der großen Galaxien - das Schwarze Loch, das das Zentrum unserer eigenen Galaxie bildet, Cygnus X-1, ist vor in den 1990er Jahren über einen Zeitraum von 10 Jahren "auf die Waage gelegt worden" - als Maßstab diente die Umlaufgeschwindigkeit einiger Sterne in dessen unmittelbarer Umgebung, und das Ergebnis belief sich auf eine Gesamtmasse von 210 Sonnenmassen - gilt unter Astrophysikern mittlerweile als gesichert, auch wenn niemand je ein Anzeichen von Quantenlöchern oder Hawkingstrahlung aufgetan hat.)

Zwei spätere Postulate Hawkings haben weniger Anklang gefunden: zum einen, daß zwar nicht die Energie beim "Durchlauf" durch ein Schwarzes Loch verlorengeht, wohl aber sämtliche Information - ein Postulat, das im fundamentalen Widerspruch zu den Grundannahmen der Quantenphysik steht, und seine wohl kontroverseste Idee, ab 1983 mit Jim Hartle entwickelt: daß das Universum weder einen Anfang noch ein Ende habe (und zwar im Fall eines Kollapses, nicht im Fall einer unendlich fortgesetzten Ausdehnung, von der die Astrophysik ausgeht, seit 1998, vor jetzt 20 Jahren, entdeckt wurde, daß die Fluchtgeschwindigkeit der fernsten Galaxien nicht, abgebremst durch die Gesamtmasse der Universums, abnimmt, sondern beständig größer wird): "vor" und "nach" dem Urknall (oder der finalen Singularität) gebe es keinerlei Zeit; kein "vorher", keine "Grenze", nur eine exponentiell ins Unendliche gesteigerte Beschleunigung der Zeit; es sei daher sinnlos, un zwar nicht nur konzeptuell oder metaphorisch, von einer "Zeit vor dem Urknall" zu sprechen, da so etwas schon die Existenz eines Universum voraussetze. Dieses Konzept gehört aber, das sollte deutlich gesagt werden, zu jenen gar nicht wenigen im hochgradig spekulativen Feld der Kosmologie, die keinerlei Anklang jenseits ihres Schöpfers gefunden haben. Für die meisten, die auf diesem Gebiet arbeiten, handelt es sich hier um eine letztendlich sinnfreie Kasuistik.

Zwei Dinge noch: Hawking zählt (oder zählte) zu der Art von Physikern, von Wissenschaftlern, die zum Symbol werden, zur Chiffre, völlig abgelöst von ihren Meriten, ihrem Rang, dem Inhalt ihrer Arbeit. In diesem Belang steht er, für das 20. Jahrhundert, allein neben Einstein. Die meisten Menschen dürften auch kaum eine genauere Ahnung von Einsteins Theorien besitzen - aber das Bild des wuschelköpfigen, kauzigen (und wahrscheinlich hochgradig weltfremden?) Gelehrten, dessen überirdische Gedankenführung jenseits aller Begrifflichkeit kreist, ist zum Symbol geworden. So auch das Bild des in seinem Rollstuhl mit blickloser Mimik eingesunkenen Hawking, der zum Sieg über den Verfall und Verlust des eigenen Körpers wurde. Tatsächlich ist es gerade dieses Metier, das, seit es entstanden ist, immer wieder solche Gestalten herovrgebracht hat und das davon geprägt ist wie kein anderer Bereich der Wissenschaft: nicht einmal so sehr den wirklich forschenden Astronomen am Okular ihrer Teleskope, sondern jene, die, anscheinend durch bloßes Nachdenken, den Schlüssel zu Aufbau und Sinn des Universums in Händen halten: Kepler, Galilei, Isaac Newton (der als erster Inhaber des für ihn eingerichteten Lucasian chair in Oxford der erste Amtsvorgänger Hawkings war). Mit Stephen Hawking dürfte der letzte Vertreter dieser Art von der irdischen Bühne abgetreten sein. Zum einen dürften, in fast allen Fällen, nicht nur der Kosmologie, sondern auch den übrigen Bereichen der Welterkenntnis, die Grundlagen ausreichend erforscht sein, um keine allzugroßen Umschwünge in der Modellierung der Welt mehr zu erwarten. Der einsame Gelehrte, der aus der Lamäng als Einzelkämpfer eine Revolution auslöst, dürfte der Vergangenheit angehören: nicht nur, weil die Grenzen nur noch von Forschungsteams erweitert werden können, weil zur Datengewinnung, sei es an Beschleunigern wie dem CERN, sei es an den gigantischen Datenmengen etwa bei teleskopischen Himmelsdurchmusterungen, umfangreiche Teams benötigt werden. Das Bild des heroischen Einzelkämpfers trog auch, immer schon, und zwar in doppelter Hinsicht: immer waren, in 99% aller Fälle, die Beiträge des Einzelnen minimal, waren sie Wasserträger, die ein Mosaiksteinchen neben das andere setzen. Zudem verkennt die Optik, die Fortschritte in der Wissenschaft als heroische Pionierdurchbrüche sieht, die Natur dieser Erkenntnis: daß sie nur Widerlegung, durch Skepsis, und fortwährende Überprüfung Bestand haben kann - und daß 99 Prozent dieser Ideen, dieser Arbeit vergeblich, falsch, unzutreffenden Vermutungen geschuldet sind. Daß Hawking seine letzten Jahrzehnte einer Fata Morgana gewidmet hat, teilt er mit Wissenschaftlern wie Werner Heisenberg, dessen späte "Weltformel" ebenfall ein substanzloses Phantom war, oder Linus Pauling, dessen Fixierung aufs Vitamin C dieses doch nicht zur Panazee für jedewede Hinfälligkeit machen konnte. Oder Stephen Wolfram, dem es bislang verwehrt blieb, per zellularen Automaten die Grundlage für eine "völlig neue Art der Wissenschaft" (A New Kind of Science, wie der Titel seines Buchs von 2002 lautet) zu legen.

Zum anderen: es gilt, in der Betrachtung der Wissenschaft und ihrer Resultate, zwischen diesen Resultaten und den Personen, die sie erbringen, absolut zu trennen. Es ist völlig belanglos, welche Politik, welche Haltung, welche Nähe zu welchen Positionen ein Wissenschaftler vertritt. Es zählt einzig, ob sein Werk sich durch innerliche Konsistenz und den Abgleich an der Wirklichkeit bewährt. Hawkings Haltung etwa in Hinsicht auf das BDI, des Boycott and divest Israel, der Bewegung, Israel, seine Waren zu "boykottieren und 'deligitimieren'" - und das heißt in Hawkings Bereich: akademischen Austausch zu sabotieren, israelischen Wissenschaftlern an Universitäten oder Kongressen kein Podium zu bieten - hat auch heute, nach seinem Tod, zu teilweise scharfen Reaktionen geführt. Für den Unterzeichneten zeigt sich darin kein "Antisemitismus" Hawkings, in keiner Weise: eine solche Haltung läßt sich ihm nicht nachsagen. Wohl aber die oben schon erwähnte "Weltfremdheit", eine Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse etwa im nahen Osten, ein Gefangensein in der eigenen Filterblase und die wohlmeinende, aber ahnungslose Imitiation idealistischer Positionen, wie sie von engagierten "Idealisten" - und das heißt: politisch Agitierenden - vorgelebt wird, gepaart mit dem Eindruck, daß die eigene Berühmtheit es möglich und nötig mache, sich hier mit dem Gewicht der eigenen Position fördernd einbringen zu müssen. Es ist seit hundert Jahren das beständige Problem der fellow travelers, der gauche caviare, der edlen Seelen gerade aus dem westlichen universitären Milieu, sich hier vor Karren spannen zu lassen, denen sie besser fortgeblieben wären. Vergleichbar ist auch die Neigung Hawkings in seinen letzten Jahren, statt des stringenten Wissenschaftlers auf seinem Fachgebiet ein Orakel in zahllosen Interviews zu geben, um in endloser Wiederholung das pp. Publikum mit Seichtigkeiten zu verlustieren: die Warnung von der menschengemachten Klimakatastrophe, die Forderung, den Weltraum "zu besiedeln", verbunden mit dem Postulat, die Menschheit werde ihren Heimatplaneten in fünfhundert Jahren, nein, zweihundert, nein hundert mit Sicherheit zerstören, der Verkündigung, er sei sich sicher, daß Zeitreisen möglich seien, die Warnung, "Außerirdische auf uns aufmerksam zu machen": all das war eine trübe Kollusion zwischen einer Presse, die mit Hilfe eines nach maßgeblicher Autorität klingenden Namens infantile Phantasmen bediente und der Neigung, sich, durchaus auch ohne jede nähere Beschäftigung mit dem Thema, als Weltweisen zu gerieren. (Wer sich für Details interessiert, kann auf Lubos Motls stets empfehlenswertem Netztagebuch The Reference Frame eine exemplarische Dekonstruktion des Schnellschusses Hawkings auf den von ihm wie allen "edlen Seelen" als katastrophal registrierte Ausstieg des amerikanischen Präsidenten Trump aus dem Pariser Klimaabkommen vom vergangenen Juli nachlesen - Hawking verstieg sich zu der absurden Behauptung, die Erde werde sich infolge der "Klimakatastrophe" auf Venustemperaturen von mehreren hundert Grad aufheizen: "Venus and Hawking's scientific illiteracy".)





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Ulrich Elkmann

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